White Paper zur Fachtagung Kung Fu Management des Club of Logistics: Von Konfuzius über Mao zur Wirtschaftsgroßmacht: Chinas Umbrüche folgen Chinas Traditionen
Dieses White Paper beschäftigt sich mit den geistigen Grundlagen der chinesischen Wirtschaftswelt und der Frage, was deutsche Unternehmen über die kulturellen Unterschiede wissen müssen. Ausgangspunkt und Basis für das vorliegende Papier ist die 22. Fachtagung des Club of Logistics, die am 5. und 6. Mai 2014 in Starnberg stattfand.
An Asien scheiden sich die Geister. Von schwärmerischer Verehrung des scheinbar Fremden über hochmütiges Amüsement über unverstandene Sitten und Gebräuche bis hin zur Warnung vor der „gelben Gefahr“ reichen die emotional aufgeladenen Einstellungen zu den Eigenheiten, Besonderheiten, Erfolgen und Problemen der volkreichsten Region der Erde. Schlechtes Gewissen wegen der kolonialistischen Vergangenheit, Furcht vor der neuen wirtschaftlichen Dynamik und die Schwierigkeit, die Intentionen und Strategien der aufstrebenden Völker des fernen Ostens zu durchschauen und ihre Verhaltensweisen einzuschätzen, erschweren ein unvoreingenommenes Urteil und führen zu einem Wechselbad aus Faszination und Furcht.
Insbesondere China steht dabei im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, seit Japan als Erfolgsmodell für die Zukunft aus der Mode gekommen ist. „Die japanische Herausforderung“, vor der Hakan Hedberg 1982 in seinem gleichnamigen Buch warnte, hat längst ihren Schrecken verloren und eher einer Besorgnis vor weiterer Stagnation Platz gemacht. Dafür wird der kometenhafte (Wieder-)Aufstieg Chinas inzwischen im Westen häufig in ähnlich übersteigerter Weise als Vorstufe zur unvermeidlichen Weltdominanz angesehen wie ehemals der Japans.
Zweifellos ist dieser Aufstieg beeindruckend und wird völlig zurecht mit zahlreichen Superlativen beschrieben. So kann China das höchste anhaltende Wirtschaftswachstum der Weltgeschichte aufweisen: Rund drei Jahrzehnte lang lag der Anstieg der Wirtschaftsleistung jährlich dicht an der
Zehn-Prozent-Marke (zumindest wenn man den offiziellen Statistiken trauen darf). Das Land ist zum größten Exporteur von industriellen Gütern aufgestiegen und seine 1,3 Milliarden Bürger haben den größten Automobilmarkt der Welt geschaffen. Gleichzeitig verwaltet China die größten Währungsreserven der Welt und ist größter Gläubiger der größten Wirtschaftsmacht USA.
Freilich ist das Reich der Mitte mit einem Bruttosozialprodukt von (2013) rund 6.500 Dollar pro Kopf der Bevölkerung (2003 lag der Wert noch bei ca. 1.200 Dollar) verglichen mit westlichen Standards immer noch ein relativ armes Land. Doch konnte die chinesische Führung mit ihren marktwirtschaftlichen Reformen mehr als 500 Millionen Menschen aus bitterster Armut befreien.
Die Aufmerksamkeit, die die chinesische Wirtschaft derzeit erfährt, ist also sehr wohl begründet, denn die zweitgrößte Wirtschaftsnation der Welt beeinflusst auf Grund ihrer schieren Masse und ihrer Bedeutung für den Welthandel die Wirtschaftsentwicklung jeder Nation der Welt. China ist auch von herausragender Bedeutung für sämtliche Branchen der deutschen Industrie. Längst produzieren deutsche Unternehmen nicht nur für den deutschen und europäischen, sondern auch für den chinesischen Markt, wobei der Anteil des Chinageschäfts am gesamten Konzernumsatz ständig wächst. Auch Forschungsabteilungen deutscher Firmen arbeiten im Land. Wer von den höheren Margen in China profitieren will, muss auch im Reich der Mitte präsent sein, so die Mehrheitsmeinung in Analysten- und Industriekreisen.
Kein Wunder, dass man sich im Westen fragt, welche Gründe es für die beispiellose Performance der Chinesen gibt. Liegt es am sprichwörtlichen Fleiß der Asiaten? An der Fähigkeit, Technologien, Verfahren und Strategien bisher führender Wirtschaftsmächte zu kopieren? Oder gibt es tiefere Ursachen, nämlich die Jahrtausende alten geistigen und kulturellen Traditionen und Prägungen?
Chinakenner aus dem Westen machen eine Mischung aus Gründen für den chinesischen Wirtschaftserfolg (aber auch dessen Grenzen) verantwortlich, mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Die große Mehrheit hält kulturelle Einflüsse für zumindest teilweise relevant. Unbestreitbar ist dabei, dass sich geistig-kulturelle Faktoren den Aktivitäten in Handel und Wirtschaft aufprägen.
Doch welche Traditionen sind überhaupt gemeint, und wie wirken sie sich in Politik und Wirtschaft aus? Wie auch immer man die chinesische Wirtschaft einschätzt, viele Unternehmen sind nach wie vor überzeugt, dass sie von chinesischen Pendants lernen können und lernen müssen, um im globalen Wettbewerb mithalten zu können. In jedem Fall ist es wichtig zu verstehen, mit welchem geistigen Hintergrund die Wettbewerber und Geschäftspartner denken und handeln.
Tradition vermischt sich mit modernen Wertvorstellungen
Eine scheinbar triviale Binsenweisheit, die uns Deutschen immer sofort einfällt, wenn wir über die geistige Andersartigkeit Chinas sprechen, ist: „Chinesen denken langfristig, der Westen denkt kurzfristig.“ Daran kann manches wahr sein, aber für das konkrete Zusammenarbeiten mit chinesischen Partnern in der Gegenwart ist es nicht von vorrangiger Bedeutung. Und zudem muss es nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss sein, wie Lutz Becker, Wirtschaftswissenschaftler an der Karlshochschule in Karlsruhe und Spezialist für internationales Management, anmerkt: „Chinesen denken keineswegs immer in langen Zeiträumen. Sie denken strategisch, das ist nicht dasselbe wie langfristig. Sie denken strategisch, und dabei durchaus auch kurzfristig.“
Die Hauptströmungen, die die chinesische Kultur bis heute prägen, sind – so die übereinstimmende Beurteilung zahlreicher China-Spezialisten – Konfuzianismus, Buddhismus und Taoismus, wobei der Konfuzianismus bei weitem den größten Anteil ausmacht.
Die Lehre des Konfuzius stellt Ordnung in der Welt, Harmonie in der Gesellschaft und fleißiges Lernen in den Mittelpunkt der Ausrichtung der Gemeinschaft und des Lebens des Einzelnen. Nicht das Individuum ist Ausgangspunkt des Denkens der Sozialphilosophie des Meisters Kong, sondern die Gesamtgesellschaft. Abweichen von der Norm, „Chaos“, Unruhe und Verwirrung sind die großen Gefahren, die es in der Sichtweise des Konfuzius zu vermeiden gilt. Das Rezept gegen diese Be-drohungen einer anarchischen Unordnung ist die strikte Einhaltung einer hierarchischen Ordnung:
- Die Kinder verehren ihre Eltern und gehorchen ihnen.
- Die Frau gehorcht ihrem Mann.
- Der Jüngere achtet den Älteren.
- Der Untertan ehrt seinen Herrscher, der ihm im Gegenzug mit
- Fürsorge begegnet.
In einem Zitat des Philosophen Mozi, der wie Konfuzius im 5. Jahrhundert v. Chr. geboren wurde und in den Grundzügen seiner Lehre mit Konfuzius übereinstimmt (allerdings eigene Akzente setzt und teilweise andere Folgerungen zieht), kommen Zusammenhang und Bedeutung dieser Aspekte klar zum Ausdruck: „Wenn Untertanen und Söhne ihren Fürsten und Vätern keine kindliche Pietät bezeugen, dann nennt man das Verwirrung. […] Wenn selbst der Vater gegenüber seinem Sohn, der ältere gegenüber seinem jüngeren Bruder oder der Fürst gegenüber seinem Untertan keine liebevolle Gesinnung hegt, so ist dies auch ein Zustand, den man Unordnung im Reiche nennt. […] Und wenn die Würdenträger ihre Familien gegenseitig in Unordnung bringen und die Lehnsfürsten sich untereinander bekämpfen, dann ist es ebenso. […] Alle Fälle von Verwirrung im Reiche sind darin enthalten.“
Selbstzügelung des Einzelnen zum Nutzen des Ganzen, ein strenger Sittenkodex und das Streben nach Einheit mit Staat und Gesellschaft sind die Merkmale dieser philosophischen Denkweise. Hinzu kommt bei Konfuzius eine überragende Bedeutung des Lernens im Sinne des Speicherns von Wissen statt umstürzlerischer Kreativität: „Lernen und es von Zeit zu Zeit anzuwenden, ist das nicht eine große Freude?“, erklärt der Denker und sieht gar die größte Freude im Einüben von Erlerntem.
Hierarchisches Denken und mechanisches Lernen als zentrales geistiges Fundament einer der erfolgreichsten Wirtschaftsnationen der Welt – ist das möglich? Ist der Einfluss des Konfuzianismus wirklich auch heute noch relevant? Die Sinologin Dorothee Schaab-Hanke bejaht diese Frage eindeutig: „Konfuzianische Elemente finden sich in vielfältiger Form auch in der Gegenwart Chinas… Konfuzianische Ahnenverehrung, wenn auch durchmischt mit taoistischen und buddhistischen Elementen, spielt noch heute im Privatleben der Chinesen … eine wichtige Rolle. … Auf konfuzianische Riten stößt man im Verkehr mit Chinesen allenthalben, insbesondere da, wo die Kontakte auf offizieller Ebene stattfinden… Auch in die offizielle diplomatische Rhetorik gehen … wieder Begriffe aus der alten konfuzianischen Werteordnung ein. So betonte … Hu Jintao (bis 2012 Generalsekretär im Zentralkomitee der KPCh) in einer Rede vor dem Nationalen Volkskongress, dass der Aufbau einer ‚harmonischen sozialistischen Gesellschaft’ eine zentrale Aufgabe der Gegenwart darstelle. Offenbar erhofft man sich von Begriffen wie „Harmonie“ (he), einem Schlüsselwort in der Lehre des Meisters Kong, eine besänftigende und ausgleichende Wirkung, gerade in einer Zeit, in der angesichts der immer weiter klaffenden Schere zwischen Arm und Reich zunehmend Unruhen die Sicherheit des Riesenreichs bedrohen.“
Auch die Asienexpertin und Unternehmensberaterin Hanne Seelmann-Holzmann, Dr. Hanne Seelmann Consultants, Nürnberg, betont die Bedeutung des konfuzianischen Erbes für das Verständnis des gegenwärtigen Chinas: „Wir finden heute in China ganz konkret eine wilde Mischung aus Konfuzianismus, Kommunismus und marktwirtschaftlichem Denken vor. Die konfuzianische und buddhistische Grundorientierung ist dabei eher unbewusst und wird aus dem familiären Umfeld übernommen. Für westliche Besucher und Geschäftspartner ist sie daher nicht leicht zu erkennen, was zu vielen kulturellen Missverständnissen führt.“
„Wir haben es eigentlich nicht mit einem homogenen China zu tun, sondern mit drei ganz unterschiedlichen Chinas.“, ergänzt Xueli Yuan, Unternehmensberater bei Asia Contact in München. „Erstens dem traditionellen konfuzianisch geprägten China, in dem Höflichkeit, Bescheidenheit, Unterordnung und Vertrauen im Mittelpunkt stehen. Zweitens dem sozialistischen China, das der Staatsmacht das Sagen zugesteht und die Karrierepläne am Parteiapparat orientiert. Und schließlich das moderne kapitalistische China der Menschen unter 35 Jahren, die Fremdsprachen sprechen, sich ausländischen Strömungen öffnen und zunehmend über interkulturelle Kompetenz verfügen.“
In vielen Fällen begegnen westliche Besucher wohl einer schwer einzuordnenden Mischung aus all diesen kulturellen Elementen. Sie durchziehen sowohl den privaten als auch den beruflichen und politischen Bereich und erfordern erhebliches Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl, wenn das Zusammentreffen nicht in Irritationen enden soll. Ohne eine gewisse Vorbereitung und Beschäftigung mit den Gegebenheiten in China, wird es nach Ansicht der Experten nicht abgehen. Insbesondere bei Geschäftskontakten hängt der Erfolg stark von funktionierenden persönlichen Beziehungen ab – und die sind ohne den kulturellen Hintergrund kaum herzustellen.
Die Frage ist, wie sich die kulturelle Situation in der Zukunft weiter entwickeln wird. Steht etwa zu erwarten, dass mit den jungen Chinesen der Einfluss traditioneller Werte verschwindet und sich eine Generation herausbildet, die sich in erster Linie an westlichen individualistisch-materialistischen Vorstellungen orientiert? Die meisten Experten erwarten wie Hanne Seelmann-Holzmann eher, dass es bei einer „Mischform“ bleiben wird: „Die Chinesen werden sicher westliche Sicht- und Vorgehens-weisen assimilieren, ohne aber im Gegenzug alle eigenen Traditionen aufzugeben.“
Umgang mit einer fremden Kulturlandschaft
Verehrung von Vätern und Vorgesetzten, Achtung gegenüber den persönlichen Pflichten, Orientierung am Interesse der Gesamtheit, Gehorsam, Harmoniestreben und Wahrung des Gesichts – diese im Konfu-zianismus wurzelnden Haltungen bestimmen nach wie vor die gesellschaftliche Wirklichkeit im heutigen China. Für deutsche Manager stellt sich daher die Frage: Wie macht sich dies bei der Unternehmenszusammenarbeit konkret bemerkbar, worauf ist im Sinne einer erfolgreichen Kooperation zu achten und wie sollten sich deutsche Unternehmer auf ihre Partner einstellen?
Zunächst ist wohl unbestreitbar, dass es nicht darum gehen kann, chinesische Tradition kritiklos einfach zu übernehmen. „Kulturelle Traditionen sind über Jahrhunderte und Jahrtausende gewachsen und haben sich in einem ganz speziellen geistigen und geografischen Umfeld entwickelt.“, so der amerikanische Wirtschaftsexperte Irwin Stelzer. „Sie sind dazu da, eine Gemeinschaft zu stabilisieren und enthalten daher Elemente, die in dem jeweiligen Umfeld von Vorteil sind, aber auch die Flexibilität begrenzen: Bestimmte Einflüsse, die zur Tradition passen, werden akzeptiert und eventuell sogar assimiliert, was im gewohnten Rahmen keinen Sinn ergibt, wird abgelehnt. So sind Traditionen immer Vorteil und Nachteil, Treiber und Bremser zugleich.“
Die konfuzianischen Denkweisen finden sich auf allen Ebenen der chinesischen Gesellschaft und führen zu charakteristischen Merkmalen im Alltag. Der Hang zur Homogenisierung der Beziehungen und Stabilisierung der Ordnung etwa führt, so Wolf Dieter Enkelmann, Direktoriumsmitglied des Instituts für Wirtschaftsgestaltung in München, „zu einer Verwandtschaftsgesellschaft, die uns individualistisch geprägten Europäern Angst macht“. „Familie, Freunde, Geschäftspartner und staatliche Organisationen sind die Zwiebelschalen der asiatischen Gesellschaftsstruktur.“, erklärt Yasmin Mei-Yee Fargel, Geschäftsführende Direktorin des Münchener Instituts für deutsch-chinesische Zusammenarbeit IDCZ. „Die einzelnen Schalen sind durch enge Netzwerke gekennzeichnet, in die Fremde nur schwer Eingang finden. Gerade das ist für eine geschäftliche Kooperation jedoch enorm wichtig: in die entsprechenden Netzwerke hineinzukommen. Wo beiderseitiger Nutzen winkt, wenn es beispielsweise um strategische Partnerschaften im gegenseitigen Interesse geht, ist das auch durchaus möglich und bei chinesischen Partnern willkommen.“ Und auch Dieter Hierner, Director Deutsche Bank AG, bekräftigt: „Netzwerke und die darin verwobenen Freundschaften zählen in China weit mehr als in Deutschland.“
Die ganz entscheidende praktische Frage für Unternehmer, die mit chinesischen potenziellen Partnern ins Geschäft kommen wollen, ist demnach: Wie erhalte ich Zugang zu den bestehenden Netzwerken? Dieter Hierner: „Zunächst ist es wichtig, Partner und Wettbewerber genau zu studieren und kennen-zulernen. Deutsche Manager vernachlässigen diesen Punkt allzu häufig, sie bereiten sich zu wenig auf die Gesprächspartner vor.“
Doch das allein scheint nicht alles zu sein: „Dem Aufbau von tragfähigen Beziehungen dienen persönliche Anbahnungsrituale wie Einladungen zum Essen oder Karaokeveranstaltungen, kleine Geschenke und private Treffen vor dem geschäftlichen Verhandeln. Und Weiterempfehlungen von Netzwerkmitgliedern sind so viel wert wie bares Geld.“
Wim van Aalst, Independent Supply Chain Consultant bei AZ Management BV in Amsterdam, macht die Konsequenzen dieser Gewohnheiten an einem Vergleich mit seiner niederländischen Heimat deutlich: „In Holland nehmen wir uns vielleicht fünf Minuten Zeit für Anbahnungsrituale, nach dem Motto: Wie war der Flug? Wie geht es Ihrer Frau? Et cetera. In China oder mit chinesischen Besuchern in Europa dauert diese Phase mindestens ein paar Stunden, wenn nicht Tage. Man geht zum Shoppen in renommierten Geschäften oder großen Einkaufszentren, trifft sich zum Essen, macht einen Stadtbummel und Ähnliches. Ohne diese Phase entsteht keine vertraute Atmosphäre, in der man dann übers Geschäft sprechen kann.“
Hier wird bereits eine Schattenseite des konfuzianisch geprägten Hangs zur familiären Partnerschaftsstruktur sichtbar: Hinter den verschiedenen Aktivitäten zur Bereitung einer positiven menschlichen Geschäftsatmosphäre lauert eine hässliche Seite der chinesischen Gesellschaft: die Korruption. Nicht umsonst hat der derzeitige chinesische Staatspräsident Xi Jinping den Kampf gegen die grassierende Korruption im Land zu einem der Hauptanliegen seiner Amtszeit erhoben. Was im Umfeld kleiner Familienbetriebe und mittlerer Unternehmen noch relativ harmlos sein mag, hat auf der Bühne der Großbetriebe und staatlichen Unternehmen sowie der politischen Klasse enorme Konsequenzen. Korrupte Parteimitglieder seien, so Xi, „eine der größten Bedrohungen für die Partei insgesamt“. Und die Wirtschaft ebenso, möchte man hinzufügen.
Entsprechend hart will der Präsident gegen das Gewirr aus Bestechung, Vetternwirtschaft und Schattenökonomie vorgehen. Dass er damit ernst macht, daran besteht spätestens seit der Verhängung von Todes- und langjährigen Gefängnisstrafen für namhafte Parteikader, denen Korruption in großem Stil nachgewiesen wurde, kein Zweifel mehr. Doch viele Experten bezweifeln, dass die Korruption tatsächlich nachhaltig beseitigt werden kann – eben gerade weil sie in der konfuzianischen Grundausrichtung des chinesischen Denkens verankert ist und damit den Zusammenhalt der Gesellschaft mit prägt.
Wie sehr der Kampf gegen Bestechung an den Grundfesten der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen rüttelt, beschreibt Andrew Browne im Wall Street Journal: „Werden hochrangige Chinesen bei der Korruption erwischt, fällt immer gleich eine ganze Reihe von Dominosteinen: Familienmitglieder, Geliebte, Freunde, ehemalige Kollegen, Geschäftspartner, politische Verbündete – ihr gesamtes Netzwerk wird zu Fall gebracht.“
Hier zeigt sich, wie eng das jeweilige Netz geknüpft ist, auf das man als Außenstehender in China trifft. Und es ist ein Irrtum, zu glauben, politische und privatwirtschaftliche Netzknoten trennen zu können: „Nach wie vor bestimmt die KP die Geschicke des Landes, und in allen großen Unternehmen sitzen KP-Vertreter.“, erläutert Dieter Hierner. Yasmin Mei-Yee Fargel hält es daher auch für unverzichtbar, sich den bestehenden Strukturen in gewissem Ausmaß anzupassen: „Es ist richtig: Korruption und Vetternwirtschaft sind die Kehrseite des auf persönlichen Beziehungen und Zusammenhalt innerhalb einer traditionellen Struktur beruhenden Gesellschaftssystems in China. Dennoch führt kein Weg daran vorbei: die Netzwerke sind für eine dauerhafte Geschäftspartnerschaft unverzichtbar.“
Doch wie sieht der Weg in ein solches Netzwerk aus, insbesondere wenn man aus Deutschland kommt, wo – so Dieter Hierner – „jeder Blumenstrauß zu einem Compliance-Thema wird, bei dem man sich fragt: Muss ich das melden?
Muss ich es versteuern?“ Hier ist offenbar Fingerspitzengefühl gefragt sowie gute Vorbereitung und Beratung durch ausgewiesene Chinakenner. Wolf Dieter Enkelmann warnt zudem vor einer gewissen Selbstgerechtigkeit beim Thema Moral: „Wir sollten unsere Maßstäbe nicht ablegen, aber auch nicht überbewerten. Im Sinne einer nachhaltigen Zusammenarbeit geht es letztlich nicht um die Frage, wer
Recht hat, sondern wie wir miteinander klar kommen.“ Ähnlich sieht es auch Lutz Becker: „Was wir großartig als Kultur bezeichnen, ist in der Praxis nichts anderes als die Aussage: ‚Wir machen das halt hier bei uns so.’ Der Schlüssel zu einer fruchtbaren unternehmerischen Zusammenarbeit (und nur
darum kann es gehen, nicht um gegenseitige Belehrungen) ist also Offenheit und genaues Beobachten, was nur dadurch ermöglicht wird, dass wir Menschen beider Kulturen zusammenbringen. Schon in unseren Studiengängen sollten wir kulturelle Sensibilität fördern und schulen.“
Mit dem Fremden erfolgreich umgehen
Dass das Sich-Einlassen auf die Andersartigkeit der chinesischen Kultur keineswegs trivial ist, machen Experten immer wieder deutlich. Der Unternehmensberater René C. Steininger, Geschäftsführer der China Export Consulting GmbH in Nürnberg und gleichzeitig als Großmeister 10. Dan Weltcheftrainer der Tao Chan Wing Chun Kung Fu Organisation, bereitet deutsche Manager auf die Begegnung mit der fremden Kultur vor. Er sieht bei mangelnder Beschäftigung mit dem andersartigen Geschäfts- und Kulturumfeld breiten Raum für fatale Missverständnisse: „Wir sehen immer wieder, dass deutsche Unternehmen in China scheitern, und zwar nicht, weil sie in Sachen Technologie oder Marketing zu viel falsch machen, sondern weil sie es versäumen oder ablehnen, sich vorher ausreichend mit dem auseinanderzusetzen, was auf sie zu kommt.“ Und was kommt auf sie zu? „Während etwa wir Deutschen eher in Schwarz-weiß-Kategorien denken, ist bei Chinesen wesentlich mehr Gefühl im Spiel. Das wirkt sich überall aus, beispielsweise in der Gestaltung von Regeln aller Art, in der Mitarbeiterführung und in der Art und Weise wie Informationen präsentiert werden. Chinesen beobachten bei uns eine sehr direkte Kommunikation und einen hohen Erwartungsdruck auf die Mitarbeiter, der häufig zu Angst vor dem Chef führt. Sehr oft fühlen sich chinesische Angestellte in deutschen Firmen nicht wohl, sie entwickeln kein Heimatbewusstsein und haben das Gefühl, dass das Management ihnen nicht vertraut.“ Der Faktor Vertrauen scheint offenbar einer der Stolpersteine zu sein, über den deutsche Unternehmen leicht fallen. „Chinesen wollen gutes Geld verdienen, das ist klar.“, erläutert Xueli Yuan. „Aber das ist nicht alles. Die konfuzianische Prägung führt dazu, dass Werte wie Ehrlichkeit, Vertrauen und Loyalität eingefordert werden. Wenn deutsche Manager von ihnen Vertrauen anmahnen, aber nur Jahres- oder Zweijahresverträge und erst nach zehn Jahren eine Festanstellung anbieten, fragen sie sich, auf welcher Grundlage sie denn Vertrauen haben sollen. Wertschätzung und Entwicklungsperspektiven sind ihnen von besonderer Wichtigkeit.“ Fachleute weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Verweildauer von chinesischen Mitarbeitern in deutschen Unternehmen wesentlich kürzer ist als die in japanischen und amerikanischen Unternehmen. Die Erfahrung zeigt: Da deutsche Unternehmen wegen ihrer guten Ausbildungsmöglichkeiten geschätzt sind, absolvieren viele chinesische Arbeitskräfte ihre Ausbildungs- und Schulungszeit in deutschen Betrieben, gehen aber anschließend zur japanischen und amerikanischen Konkurrenz. Zwar mag einer der Gründe darin zu suchen sein, dass in japanischen und amerikanischen Unternehmen die Bezahlung höher liegt, doch ist dies offenbar nicht alles, wie etwa René C. Steininger anmerkt: „Unser teutonischer Managementstil ist problem- und defizitorientiert. Wir konzentrieren uns auf das Suchen, Erkennen und Beheben von Fehlern, während Chinesen auf Erfolge fokussieren. Meistens bekommen Mitarbeiter in deutschen Firmen erst Aufmerksamkeit, wenn man ihnen Fehler nachweisen kann. Lob und Anerkennung sind Mangelware. Kritik führt aber zu Gesichtsverlust, in der chinesischen Tradition ein fataler Tatbestand. Nicht wenige deutsche Unternehmen verlieren chinesische Mitarbeiter, weil sie darauf bestehen, immer die Schuldfrage zu klären, wobei der dann Beschuldigte sein Gesicht verliert.“
Japanische Unternehmen sind kulturell ähnlich ausgerichtet wie chinesische und die amerikanische Motivationskultur über Lob und offen ausgesprochene Anerkennung kommt den Erwartungen der chinesischen Mitarbeiter ebenfalls eher entgegen als die Kritik-freudige deutsche Unternehmens-führung. Eine der wichtigsten Aufgaben für Unternehmen, die motivierte chinesische Mitarbeiter wollen, ist demnach, das zu bieten, was Chinesen aus ihrem kulturellen Hintergrund heraus schätzen. Xueli Yuan: „Es ist eine Kombination aus guter Bezahlung, Entwicklungsperspektiven, deutlich sichtbarer Wertschätzung und Ehrlichkeit, also die Tatsache, dass ein Chef sagt, was er meint und tut, was er sagt. Damit lässt sich erreichen, dass sich chinesische Mitarbeiter auch mit dem Arbeitgeber identifizieren und daher hoch motiviert arbeiten. Deutsche Unternehmen, die in China erfolgreich sind, schaffen es, ein Wir-Gefühl und Vertrauen zu erzeugen.“
Dies ist ganz sicher keine leichte Aufgabe. Der konfuzianisch begründete Gruppencharakter der chinesischen Gesellschaft (Familie, Verwandtschaft etc.) schlägt sich auch hier als kritischer Faktor nieder: Teams im Unternehmen bilden eine eigene Gruppe, die nach Stabilität verlangt und einer Hierarchie folgt. „Die Teambildung in einer interkulturellen Umgebung kann enorm schwierig sein.“, weiß Hanne Seelmann-Holzmann. „Gemäß dem Hierarchiegedanken muss eine Führungsfigur gefunden werden, die im Team über Respekt verfügt. Diese Führungsfigur gilt es zu motivieren. Gelingt es nicht, sie für das Unternehmen zu gewinnen, wird sie gehen, und das ganze Team geht mit.“
Erfahrene Chinabesucher weisen auf ein scheinbares Paradox hin: Die Forderung nach Vertrauen erstreckt sich nicht unbedingt auf die Einhaltung von Regeln. „Die Regel in China besteht darin, dass es keine Regeln gibt.“, ist ein häufig zu hörender „Merksatz“. Markus Leutner, Managing Director Global Logistics Services / Consulting China, fasst die Erfahrungen westlicher Unternehmen so zusammen: „Die Einstellung der Chinesen zum Thema Regeln und Vertrauen irritiert uns immer wieder aufs Neue. Diese Einstellung lautet: ‚Regeln halten die anderen ein, ich muss es nicht.’ Das verschafft den Chinesen einen Wettbewerbsvorteil: Es werden mühsam Regeln erarbeitet, westliche Unternehmen halten sich daran, aber die Chinesen müssen sich nicht daran halten. Beim Stichwort Vertrauen ist also ein gewisser Vorbehalt zu machen. Die Einhaltung von Regeln ist nach chinesischem Ver-ständnis nicht unbedingt Bestandteil eines Vertrauensverhältnisses.“ So manches deutsche Unternehmen in China kann ein Lied hiervon singen, wenn es sich wieder einmal über Technologie-diebstahl beschweren muss.In jedem Fall sind sich alle Chinaexperten in einem einig: Vor einem längerfristig geplanten Engagement in China, ist eingehende Beratung und eine offene Beschäftigung mit der fremden Tradition unerlässlich. Und hier fehlt es häufig nicht nur an der Bereitschaft, sondern auch an der richtigen inneren Einstellung, wie Hannes Streeck, CEO FIEGE Far East Holding, aus eigener Erfahrung berichtet: „Wenn deutsche Manager, gerade solche der stolzen deutschen Autoindustrie, unter sich sind, kann man aus ihren Äußerungen nur zu oft eine unangebrachte Überheblichkeit und einen erheblichen Mangel an sozialer Kompetenz heraushören. Langfristig kann diese Einstellung den Erfolg in China gefährden.“
Lernen und Lehren – das etwas andere Ausbildungssystem
Ein zentrales Element der konfuzianischen Philosophie ist das Thema „Lernen“. Wenn es quasi das höchste Glück ist zu lernen und das Erlernte anzuwenden, wie sieht dann die Ausbildung in China aus und was müssen deutsche Unternehmen darüber wissen?
Die Erfahrung zeigt offenbar, dass chinesische Studenten zwar selbstständiger werden, aber auch heute noch wesentlich mehr als ihre westlichen Kollegen auf genauer Anleitung, klaren Ansagen und wiederholbaren Abläufen bestehen. „Es geht um das erfolgreiche Nachschaffen, nicht um den kreativen Akt.“, so ein deutscher Forscher, der seit vielen Jahren mit chinesischen Studenten an der Universität in San Diego arbeitet. „Und das war genau die Intention der konfuzianischen Wissensvermittlung: perfektioniertes Kopieren der Arbeit eines Meisters.“
Im chinesischen Ausbildungssystem schlägt sich dies klar nieder, wie Wolfgang Hirn in seiner Studie „Herausforderung China. Wie der chinesische Aufstieg unser Leben verändert“ (Verlag S. Fischer, Frankfurt a. M., 2005) ausführt: „Allein eine gute Ausbildung – am besten in Form eines Hochschulstudiums – ermöglicht den sozialen Aufstieg und eine lukrative Teilhabe am Wirtschafts-boom des Landes. Deshalb unterjochen sich die Schüler … diesem sklavischen Schulsystem. Es ist ein sehr hierarchisches System, das blinden Gehorsam honoriert, Obrigkeitsdenken fördert und Prüfungen einen hohen Stellenwert einräumt. Es erzieht seine Schüler dazu, große Mengen von Texten auswendig zu lernen, ohne dass sie diese reflektieren müssen. Chinesische Schüler haben deshalb ein ausgezeichnetes Gedächtnis und können blitzschnell denken. Die Folge: ‚Sie sind phänomenal in Naturwissenschaften und Mathematik, aber sie sind nicht fähig zu diskutieren’, sagt der Amerikaner Kevin Crotchett, der an einer Mittelschule in Suzou unterrichtete, laut The Christian Science Monitor. Widerworte werden nicht geduldet, Kreativität kann in diesem Klima der Angepasst-heit und des Duckmäusertums nicht gedeihen.“
Allerdings hat der Erfolg von Bildungsreformen in den eigentlich ebenfalls konfuzianisch geprägten Staaten Ostasiens, etwa Korea und Singapur, auch die chinesische Regierung zu Reformbemühungen inspiriert. Wolfgang Hirn: „Eine Reform des Bildungssystems musste her. Sie sollte einerseits die Schüler zu mehr Eigeninitiative heranziehen, aber andererseits auch nicht zu viel davon zulassen, um zu verhindern, dass die lernenden Nachwuchskräfte vielleicht noch auf falsche politische Gedanken kommen. (…) Es gab neue Curricula und neue Schulbücher, im Englisch-Unterricht zum Beispiel werden nun Dialoge geübt statt nur stures „Sätzepauken“.
Viel mechanisches Wissen, wenig Kreativität – in diesem Umfeld müssen deutsche Unternehmen chinesische Mitarbeiter aussuchen, schulen und anlernen. Keine leichte Aufgabe, wie Georgia Badelt, Asien-Referentin bei der IHK Nürnberg für Mittelfranken, darlegt: „Die Lehrpläne berufsbildender Einrichtungen sind wenig an den Bedürfnissen der Wirtschaft ausgerichtet; eine Zusammenarbeit mit der Wirtschaft, wie es sie in Deutschland beispielsweise im Rahmen der dualen Ausbildung gibt, besteht nicht. Dies setzt sich auf Ebene der Führungs-Nachwuchskräfte fort: Absolventen der Ingenieurwissenschaften verfügen über ein ausgeprägtes Detailwissen, auf das deutsche Kommilitonen neidisch blicken, aber sie haben keine Erfahrung in der Anwendung. Systemorientierte Ansätze sind ihnen in der Regel fremd. Zudem verstehen sich die Ingenieure als ‚white collar’, die ungern die Ärmel hochkrempeln. Die Stellen des technischen Vertriebs und der Produktionsleitung sind entsprechend schwer mit lokalem Personal zu besetzen. Deutsche Unternehmen müssen also in die Aus- und Weiterbildung ihrer Mitarbeiter vor Ort investieren. Stellt sich angesichts der lokalen Lehrmethoden nur die Frage, wo und wie die Qualifizierung erfolgen kann. Deutsch-chinesische Projekte der Berufsbildung sowie Initiativen einzelner Unternehmen sind hier wichtige Anknüpfungspunkte.“
Inzwischen gibt es zahlreiche deutsch-chinesische Aus- und Weiterbildungseinrichtungen, die in Zusammenarbeit zwischen dem chinesischen Bildungssektor und der Industrie praxisorientierte Inhalte vermitteln und zu qualifizierten Abschlüssen in verschiedenen technischen und kaufmännischen Disziplinen verhelfen. Allerdings kommen die meisten Unternehmen, die in China Fuß fassen wollen um den Aufbau eigener Ausbildungskapazitäten nicht herum. Dies gilt besonders für den Führungskräftenachwuchs, der nach deutscher Vorstellung ja ein für China ungewohntes Maß an Selbstständigkeit und Selbstverantwortung vorweisen können sollte. Auf Sektoren wie Projektmanagement, Kundenmanagement und Vertrieb geht wohl in der Regel ohne umfassende Fortbildungsmaßnahmen nichts.
Mühsam und aufwändig, zweifellos. Aber, so Georgia Badelt: „Die Investitionen in die Qualifizierung der Mitarbeiter zahlen sich in der Regel aus: Denn abgesehen von einer Effizienzsteigerung können Mitarbeiter durch Weiterbildung stärker an die Firma gebunden werden – nicht unwichtig angesichts der hohen Fluktuation in China. Selbstverständlich sind auch andere Maßnahmen zur Mitarbeiterbindung erforderlich: ein angemessenes Gehaltssystem gehört hierzu ebenso wie ein Führungsstil, der den kulturellen Gegebenheiten, konkret den im Land üblichen Entscheidungsstrukturen, dem Hierarchiedenken und dem Kommunikationsstil Rechnung trägt.“
Trotz Kulturdifferenzen ein Chinaabenteuer?
Lohnt der Aufwand eines dauerhaften Chinaengagements außerhalb der typischen Technologiebranchen, also etwa in der Logistikindustrie, überhaupt? Experten sehen durchaus Chancen, wenn auch eher in Nischen. So urteilt etwa Supply-Chain-Management-Spezialist Michael Schüller von der Fakultät WiSo der Hochschule Osnabrück: „Es gibt ganz grundsätzlich große Nachfrage nach logistischen Dienstleistungen in China. Allein schon die schnell wachsende Mittelschicht sorgt dafür, dass die Bedeutung der Logistik zunimmt. Hinzu kommen ein enormer Bedarf bei der Entsorgungslogistik und das Thema erste und letzte Meile. Außerdem legt man in China neuerdings steigenden Wert auf Effizienz, während es bisher eher ausschließlich um die Schaffung von Arbeitsplätzen ging.“
Aus seiner Praxiserfahrung heraus bestätigt dies Hannes Streeck: „Die Logistik in China ist in vielen Punkten noch weit zurück, was allein schon der Anteil der Logistikkosten am Bruttosozialprodukt zeigt, der in China bei 16 Prozent liegt, während er in Europa nur sieben Prozent beträgt. Bisher waren einfache Lager dort kostengünstiger als automatisierte. Das ändert sich jetzt. Chinesen kaufen verstärkt Automatisierungslösungen, obwohl sie sich momentan für sie noch gar nicht wirklich rechnen. So groß ist das Interesse an der Effizienzsteigerung auf dem Gebiet der Intralogistik.“
„Was die Logistiker in China suchen, sind Automatisierung und Standards.“, so auch Markus Leutner. „So etwas wie die Euro-Palette gibt es dort nicht. Und gerade für das Hinterland sind Logistiklösungen gefragt. Für deutsche Logistiker, die sich in China engagieren wollen, gibt es durchaus Chancen. Dabei gilt es aber zu bedenken, dass dies nur erfolgreich sein kann, wenn man Partner vor Ort findet. Womit sich erneut das Thema kulturelle Unterschiede auftut oder besser die Frage stellt: Wie komme ich mit der fremdartigen Kultur zurecht?“
Noch immer scheint für eine große Zahl von Fachleuten der Schritt in den fernen Osten also für deutsche Unternehmen lukrativ zu sein. Doch es mehren sich die Anzeichen dafür, dass das stürmische Wachstum der letzten Jahrzehnte in China nicht mehr durchzuhalten ist. Die Regierung plant einen Umbau der Wirtschaft von der bisher Export-getriebenen hin zu einer mehr vom privaten Verbrauch getriebenen Struktur. Ob dieser mit einem deutlich verlangsamten Wirtschaftswachstum einhergehende Umbau reibungslos klappt, wird von vielen Wirtschaftsfachleuten eher bezweifelt. Immobilenblase, Rekordverschuldung und die bedrohliche demografische Entwicklung könnten schon bald einen zumindest vorübergehenden Einbruch beim ökonomischen Aufholen Chinas bewirken.
Die kulturelle Basis der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen im Reich der Mitte darf also nicht als für die Ewigkeit bestimmtes Erfolgsrezept missverstanden werden. Sie ist letztlich kein Wundermittel, sondern, wie Lutz Becker es ausdrückt, auch nichts anderes als „die Art und Weise, wie wir es halt hier bei uns so machen.“
Peter H. Voß, Geschäftsführer des Club of Logistics, sieht für deutsche Unternehmen eine klare Notwendigkeit für eine Beschäftigung mit den kulturellen Bedingungen in Asien: „China und die anderen etablierten oder noch heran-wachsenden asiatischen Wirtschaftsmächte werden einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Weltwirtschaft haben. Für deutsche Unternehmen ist es daher unverzichtbar, in dieser Region präsent zu sein, sowohl als Geschäftspartner der dortigen Wirtschaft als auch als direkter Konkurrent auf den asiatischen Märkten für qualitativ hochwertige Güter und Dienstleistungen. Schon aus diesem Grund ist es von großer Bedeutung für den Geschäftserfolg, sich mit den kulturellen Hintergründen des asiatischen Privat- und Geschäftslebens auseinanderzusetzen. Darüber hinaus gibt es allgemeine Erfolgsrezepte in der Herangehensweise der Asiaten an das globalisierte Business, aus denen unsere Unternehmen lernen können. Das wichtigste davon scheint mir ein strikt auf nachhaltigen Erfolg ausgerichtetes strategisches Denken zu sein. Hier lassen sich bei deutschen und europäischen Firmen noch allzu häufig Defizite erkennen. Wenn wir weiter in der ersten Riege der Wirtschaftsmächte vertreten sein wollen, ist es an der Zeit, sich auf die chinesische Perspektive einzulassen.“
Quelle: www.club-of-logistics.de