Deutscher Handelskongress 2016: Die Branche braucht eine Start-up-Kultur
Für den stationären Handel ist die Digitalisierung eine historische Chance. Um sie für sich zu nutzen, muss er sein Selbstverständnis neu definieren und sich radikal auf den Kundennutzen fokussieren. Dieses Fazit zogen Experten aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft auf dem Deutschen Handelskongress 2016 im Maritim Hotel Berlin vor gut 1.400 Teilnehmern.
Die Leitveranstaltung für die Branche und ihre Partner stand in diesem Jahr unter dem Motto „Retail Transformation – gemeinsam Zukunft denken“. Folgerichtig ermunterten die mehr als 100 Referenten aus dem In- und Ausland die Händler, sich für eine Zusammenarbeit über die eigenen Marktgrenzen hinaus zu öffnen und noch stärker als bisher die Kundeninteressen in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten zu stellen. Der stationäre Handel sei sich dessen bewusst, betonte Josef Sanktjohanser als Präsident des Handelsverbandes Deutschland (HDE).
Von der Politik mahnte er zugleich mehr Flexibilität bei Ladenöffnungs- und Arbeitszeiten sowie einen Ausbau der Breitbandinfrastrukur vor allem im ländlichen Raum an. „Unsere Aufgabe ist es, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass alle im einheitlichen Wettbewerb stehen“, sagte SPD-Generalsekretärin Katarina Barley auf dem Deutschen Handelskongress und zeigte sich grundsätzlich dialogbereit. Analog äußerte sich Kanzleramtsminister Peter Altmaier: „Wir werden einen erfolgreichen Einzelhandel hierzulande nur haben, wenn wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass stetes, nachhaltiges Wachstum dauerhaft möglich ist.“
Nach Meinung von Dr. Frank Appel, Vorstandsvorsitzender der Deutsche Post DHL Group, kommt es darauf an, mehr als bisher deutlich zu machen, welche Vorteile den Menschen aus der Digitalisierung erwachsen. „Gefragt sind künftig hybride Lösungen, die je nach Anlass und Situation erwartet und genutzt werden“, prognostizierte Appel. Gerade in der Logistik seien die Aufgaben groß; Kunden verlangten eine „Vereinfachung bis zur letzten Meile“.
„Der Kampf wird künftig nicht mehr um die letzte Meile toben, sondern um den letzten Zoll“, präzisierte Dr. David Bosshart als CEO des Gottlieb Duttweiler Institutes auf dem deutschen Handelskongress, „wir leben nicht mehr in der Welt der Waren, sondern der Informationen und Dienstleistungen.“ Vor dem Ruf nach neuen Konzepten stehe die Frage der Kultur: „Wir brauchen die Geisteshaltung des Programmierers und zugleich Herz und Seele des Künstlers.“
Die gute Nachricht für klassische Händler: Auch in der Shopping-Welt von Morgen heißt die Lösung nicht „online only“, sondern eher „online first“. Selbst die jüngeren Zielgruppen legen Wert darauf, stationäre Einkaufsangebote vorzufinden – als Orte der Begegnung und Quellen der Inspiration. „Der Handel muss aus der Position des Verkaufens hin zur partnerschaftlichen Begleitung auf Augenhöhe kommen“, empfahl Stephan Knäble, Managing Director GfK Consumer Panels Germany.
Beispiele dafür zeigten sich auf der den Kongress begleitenden Messe „Retail World“ mit eigenem Programm auf der Speakers´ Corner und rund 60 Ausstellungsständen. Ein Novum war die KPMG-Retail Tech Suite: Gemeinsam mit drei Projektpartnern präsentierte KPMG einen offenen Marktplatz mit innovativen Lösungen und echten Anwendungsfällen für das Aufeinandertreffen von Mensch und Ware. Das man dabei das Rad nicht immer neu erfinden müsse, betonte Oscar Farinetti, der mit Eataly italienische Konsumgüter weltweit vertreibt.
„Haben Sie den Mut, Dinge zu kopieren, die Sie um sich herum wahrnehmen“, rief Farinetti dem Auditorium zu, „beobachten Sie, hören Sie zu und kombinieren Sie Bestehendes neu!“ Die Verbindung von klassischen mit digitalen Strukturen favorisierte auch Prof. Dr. Miriam Meckel. Gleichzeitig warnte sie: „In dem Maß, wie Handarbeit durch Robotik und Kopfarbeit durch den Einsatz von Algorithmen ersetzt werden, müssen wir darauf achten, dass die Digitalisierung die Gesellschaft nicht spaltet und Einzelne nicht ausgrenzt.“
Künftig werde von Unternehmen verlangt, „Angebote zu definieren, die über das originäre Produkt hinausgehen“, betonte Sabine Scheunert, Vice President Digital & IT Marketing and Sales Mercedes-Benz Cars bei Daimler. Dafür müsse sich auch der Handel für Kooperationen mit Branchenfremden öffnen. Leonard Diepenbrock,Geschäftsführer von Tox-Dübel-Technik, und Felix Thönnessen, Coach der Kandidaten des „Vox“-Formats „Die Höhle der Löwen“, empfahlen auf dem Deutschen Handelskongress, Start-ups als Innovationsmotor zu nutzen.
Davon könne auch der Lebensmitteleinzelhandel profitieren, in dem die Digitalisierung in Deutschland bisher nicht vergleichbar Fuß gefasst habe, äußerte Hanneke Faber, Chief E-Commerce & Innovation Officer bei Ahold Delhaize. Sie zeigte sich überzeugt, dass hier die Entwicklung bald marktbreit einsetzen werde, mit der Folge einer enormen Disruption. Faber bezeichnete es als „unwahrscheinlich, dass ausgerechnet die Lebensmittelbranche von einer Digitalisierung ausgenommen bleibt und in einer Komfortzone verharrt“.
Das gelte auf der operativen Ebene in besonderer Weise für das Management, betonte Erich Harsch, Vorsitzender der Geschäftsführung von dm-drogerie markt: „Langfriststrategien und Tagesumsatzziele sind weder zur Digitalisierung noch zum Kundennutzen kompatibel. Und wir brauchen eine neue Managementkultur, in der Führungsarbeit zu einer Bewusstseinsarbeit wird.“ Eine Kultur, die die Menschen mit ihren individuellen Entwicklungsmöglichkeiten in den Zielfokus nimmt – „Führen auf der Basis von Freiheit und Verantwortung“, so Harsch.
Oliver Bierhoff, Manager der Deutschen Fußball-Nationalmannschaft, bekräftigte auf dem Deutschen Handelskongress, der Einzelne müsse „Teil des Prozesses werden, nur dann wird er selbst aktiv und fordert Neues ein“. Die Digitalisierung helfe im Alltag, auch weil sie eine Fülle nützlicher Daten verfügbar mache. Diese Datenmenge zu filtern und sinnvoll mit ihr zu arbeiten, sei aber noch ein Grundproblem für viele Händler, analysierte Dr. Tobias Wachinger, Senior Partner bei McKinsey & Company: „Erst dann trifft ,Big Data’ intern auf Akzeptanz.“
Doch nicht nur die wachsende Menge an gewonnenen Daten, auch die Erwartungsspirale der Kunden sorgen für permanenten Veränderungsdruck. Das bekräftigten die Referenten auf dem „HDE Digital Forum“. Was gestern noch begeistert habe, sei morgen schon Standard – eine Entwicklung, die von Newcomern befördert werde, ergänzte Christoph Keese, Executive Vice President bei Axel Springer: „Der Druck kommt vor allem von branchenfremden Start-ups, und diese werden Sie aus einer Richtung angreifen, die Sie nicht erwarten!“
Traditionell werden auf dem Deutschen Handelskongress herausragende Organisationen und Menschen ausgezeichnet, die ihr Geschäft mit Weitblick, Mut und Leidenschaft betreiben. In diesem Jahr gingen die Deutschen Handelspreise an den Online-Store für Damen-Luxusmode mytheresa.com (Kategorie „Managementleistung Mittelstand“) sowie an den Elektronik- und Technik-Händler Conrad („Managementleistung Großunternehmen“).
Friedhelm Dornseifer von der gleichnamigen Unternehmensgruppe wurde anlässlich der Gala vor über 700 Gästen mit dem „Lifetime-Award“ gewürdigt. Zum „Gesicht des Handels“ 2016 kürte die Jury Cornelia Asal von Stulz-Mode im baden-württembergischen Waldshut-Tiengen. Den zum zweiten Mal vergebenen Innovationspreis des HDE erhielt die Firma Barbara Frères Digital aus Düsseldorf für ihren Live-Shopping-Assistenten „LiSA“.
Der Deutsche Handelskongress fand am 16./17. November 2016 im Maritim Hotel Berlin statt.
Quelle: www.handelskongress.de
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