Nein, die deutsche Autoindustrie ist nicht systemrelevant
Die Politik muss sich zum Wohl der Zukunftsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft von der Too-big-to-fail-Falle verabschieden, in die sie die Jahrzehnte lange bedingungslose Unterstützung der Autoindustrie getrieben hat.
Mit großer Selbstverständlichkeit haben Politik, Wirtschaft und Presse in den letzten Wochen die deutsche Automobilindustrie mit dem Etikett „systemrelevant“ versehen und damit als „too big to fail“ charakterisiert. Der Industriezweig erhält dadurch eine Macht, die ihm in einer freien Marktwirtschaft nicht zusteht.
Die Bankenkrise hat vorgemacht, wohin ein Freibrief für Versagen führen kann. Es spricht Bände über das System, für das solche Branchen angeblich relevant sind, wenn es deren Betrug und anderes Fehlverhalten dadurch belohnt, dass es sie vor den unerbittlichen Marktkräften schützt. Das Urteil darüber, was relevant ist, spricht in einer freien Wirtschaft der Markt. Im Bankenwesen hat sich besonders in Europa nach der Finanzkrise nicht wirklich Fundamentales geändert, marode Unternehmen, die in einer freien Wirtschaft längst vom Markt verschwunden wären, werden nach wie vor am Leben erhalten. Und die Autoindustrie, die seit Jahren den Verbraucher betrogen und das marktwirtschaftliche System durch Kartellbildung verhöhnt hat, wird von den meisten politischen Parteien vor allem verbal gerüffelt, aber schon wieder durch Zukunftsversprechen gepäppelt.
Bis hin zur Bundeskanzlerin, die angeblich „entsetzt“ und „verärgert“ war als sie von den Machenschaften der deutschen Konzerne erfuhr, wird jede Kritik an der Automobilbranche stets und sofort durch das fatale „Aber“ eingegrenzt: aber man müsse ja an die 800.000 unschuldigen Arbeitskräfte denken, die durch ein allzu hartes Vorgehen gegen ihre Arbeitgeber in Gefahr gebracht würden. Letztlich befinden sich die Beschäftigten in einer Art Geiselhaft: Immer wieder gelingt es Großunternehmen, die Gesellschaft mit dem Hinweis auf das eigene Gewicht zu erpressen, um den Status Quo zu konservieren. Wenn es stimmt, dass in Deutschland etwa 1,8 Millionen Arbeitsplätze direkt oder indirekt von der Autoproduktion abhängig sind, dann ist das in einer Welt der freien Marktwirtschaft für sich genommen noch kein Argument für regelmäßige Nachsicht bei Verfehlungen oder technologischer Unfähigkeit.
Auch Stahl- und Kohleindustrie beschäftigten einst Millionen, und sie sind in Deutschland fast vom Markt verschwunden, ohne dass ‚das System’ dadurch in eine Katastrophe gestürzt worden wäre. Wie heute die Automobillobby – auf der Basis bester Beziehungen in Regierung und Parteien – in den schwärzesten Farben vor einem Deutschlands Existenz gefährdenden Branchencrash warnt, hatte vor Jahren auch die Lobby von Kohle und Stahl oder der Unterhaltungselektronik argumentiert. Und käme jemand auf die Idee, Logistikkonzerne mit Staatsmitteln zu retten, wenn sie in Schieflage gerieten, nur weil sie einem Industriezweig angehören, der drei Millionen Menschen beschäftigt? Eine Volkswirtschaft, die zukunftsfähig sein will, sollte Markt und Wettbewerbsdruck ihr Werk verrichten lassen, statt mangelnde Weitsicht und Festhalten an veralteten Technologien und Geschäftsmodellen zu zementieren.
Gerade jahrelange Nachsicht hat es ermöglicht, dass die deutsche Automobilindustrie in jenen Zustand der Hybris und Arroganz geraten konnte, der jetzt zum Problem wird. Sie hat schlicht den aktuellen Wandel nicht rechtzeitig verstanden und die Technologieentwicklung verschlafen. Ob Elektroantrieb, Brennstoffzelle oder LNG – die Konkurrenz fährt voran, während deutsche Konzerne noch mit alten Technologien werben – und dabei nicht einmal auf diesem Gebiet ihre eigenen Versprechungen einhalten können. Betrug und Scheinheiligkeit sind zum internationalen Markenzeichen der Autogiganten aus Stuttgart, München und Wolfsburg geworden, und die noch immer starke Stellung auf dem Markt verdanken sie nicht eigener Leistung, sondern einem Schweigekartell, zu dem sich neben den Autobauern auch das gekonnt wegschauende Kraftfahrt-Bundesamt, parteinahe Lobbyisten und die Überprüfungsvereine zusammengefunden haben. Und man kann nicht genug deutlich machen: Aufgeflogen ist dieses Betrugskarussell nicht durch die Aufmerksamkeit von Politik, Sachverständigen oder Presse, sondern durch die Sorgfalt amerikanischer Behörden – so ein Pech aber auch, wird es in vielen Köpfen in Deutschland heißen: Müssen die denn so genau hingucken? Ohne die US-Behörden würde das Kartell munter weiter seinen Betrugskurs steuern, zum Schaden der traditionell treuen deutschen Autofahrer.
Eine derart marktethisch verkommene Struktur darf nicht systemrelevant sein. Sie hat jeden Anspruch auf politische Bestandsgarantien verwirkt. Marktwirtschaft belohnt Kreativität, Qualität und Innovation. Sie bestraft Trägheit, Denkfaulheit und Arroganz. Letztere Eigenschaften hat die deutsche Automobilindustrie seit vielen Jahren an den Tag gelegt, die bei alternativen Antrieben und autonomen Fahrzeugen der Konkurrenz hinterherfährt und deren gerühmte Innovationen sich vor allem auf Technologien beziehen, die nicht zukunftsfähig sind (Antriebe) oder sich auf in anderen Ländern und Branchen erdachte Technologie stützen (IT für Entertainment, Assistenzsysteme etc.). Unbewegliche Industrien sind auf lange Sicht eine Belastung und kein Segen für eine Volkswirtschaft. Ein „Too-big-to-fail“ ist in hohem Maß marktfeindlich – und eine Politik, die laut Amtseid die Pflicht hat, ‚sich dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen, seinen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm zu wenden’, darf keine Branche wegen ihrer Größe von den Marktkräften isolieren.
Die Zahl betroffener Arbeitnehmer ist kein Grund dafür, der Autoindustrie durch staatliche Unterstützung den Weg in die aus Eigenverschulden verschlafene Zukunft zu erleichtern. Die Branche muss aus eigener Kraft die komplette Erneuerung im Zeitalter der Disruption schaffen, denn Trickserei und Unvermögen verdienen keine Privilegien. Wenig deutet leider darauf hin, dass eine neue Bundesregierung, egal welcher Farbgebung, eine Abkehr von der bisherigen Praxis im Umgang mit der ethisch wie technologisch diskreditierten einstigen Vorzeigebranche wagen könnte. Der Verbraucher wird die Hauptzeche zahlen. Und die üblichen politischen Nebelkerzen werden bald wieder Erfolge und Fortschritte vorgaukeln, damit wieder Ruhe und Selbstzufriedenheit einziehen können. Die Wolken am Himmel der deutschen Wirtschaft werden dunkler.
Quelle: www.club-of-logistics.de
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