„Urbane Logistik: notwendig, möglich, gestaltbar – es braucht Willen zur Gestaltung“
Gastbeitrag Prof. Dr.-Ing. Thomas Wimmer, Vorsitzender der Geschäftsführung; Christoph Meyer, Leiter Forschung und Veranstaltungen; Sebastian Huster, Projektmanager, Bundesvereinigung Logistik e.V. (BVL).
In Deutschland erleben wir einen neuerlichen Trend der Verstädterung. Für Städte bietet sich die Chance, die Lebensqualität ihrer Bürgerinnen und Bürger durch mutige Schritte im Bereich der Urbanen Logistik erheblich zu verbessern. Sie ist ein zunehmend komplexes Handlungsfeld mit vielfältigen Akteuren und Stakeholdern. Eine eindeutige Rollenverteilung ist noch nicht erfolgt. Das Spiel um die Organisation und Ausgestaltung der Urbanen Logistik ist offen. Wir werden in näherer Zukunft interessante Modelle und Veränderungen erleben.
Städtische Infrastruktur ist historisch gesehen verschiedenen Entwicklungsschüben unterworfen gewesen. Eine erste Phase enormer Verstädterung begann in Europa zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Einer der wichtigsten Antriebe dafür war die zunehmende Industrialisierung, die zu explosionsartigem Zuzug von arbeitsuchender Landbevölkerung führte. Die bestehende Infrastruktur – Wohnungsbau, Verkehrswege, Versorgungsleitungen und vieles mehr – war hierfür nicht ausgelegt. Die aus Wachstum und Verdichtung der Städte als soziale Frage definierte Not großer Teile der städtischen Bevölkerung führte zu einer Reihe technischer und infrastruktureller Innovationen, insbesondere im Bereich Wasserversorgung und Kanalisation. Der Bau großer Mietskasernen erforderte zudem deren Versorgung mit Energie, zunächst mit Kohle, später mit Gas und Strom (aus Verbrennung von Kohle). Die Anlieferung erforderte Eisenbahn- und/oder Wasserwege. Hieraus resultierte häufig eine Verschiebung der Stadtgrenzen nach außen. Die Städte wuchsen weiter, benötigten aber Nahverkehrsstrukturen, um Arbeiterinnen und Arbeiter über zum Teil lange Distanzen zu den immer öfter außerhalb des Stadtzentrums gelegenen Fabriken transportieren zu können.
Im Jahr 2005 lebten weltweit ca. 49 Prozent der Bevölkerung in Städten. Bis zum Jahr 2030 könnte dieser Anteil auf 60 Prozent steigen. In Deutschland erleben wir nach der Periode einer Suburbanisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seit einigen Jahren einen neuerlichen Trend zur Land-Stadt-Wanderung. Laut jüngeren Prognosen wird in Deutschland der in Städten lebende Bevölkerungsanteil von derzeit gut 77 Prozent auf 78,6 Prozent im Jahr 2030 ansteigen und bis 2050 auf gut 84 Prozent wachsen. Auch Familien mit Kindern zieht es häufiger als früher in die Stadt beziehungsweise sie wandern nicht mehr ins Umland ab.
Der neuerliche Trend zum Wohnen in der Stadt lässt diese bereits jetzt spürbar wachsen. Verkehrsdichte und Wohnkosten sind Teil der aktuellen politischen Debatte.
Waren im 19. und 20. Jahrhundert infrastrukturelle Innovationen häufig in Neubaugebieten zu realisieren oder ließen sich vergleichsweise einfach in bestehende Strukturen integrieren, stellt die heutige Verdichtung bestehender städtischer Strukturen Verkehrs- und Stadtplaner sowie andere Akteure vor anders gelagerte Herausforderungen. Darüber hinaus hat sich die Gesetzgebung zu Planung und Realisierung von Infrastrukturprojekten gewandelt. Es ist nicht mehr mit einem am Reißbrett entworfenen „Masterplan fits it all“ getan.
Die Versorgung bereits bestehender Stadtteile als auch neuer Quartiere und ihrer Bewohner mit Gütern kann nur durch eine leistungsfähige Logistik erfolgen. Dennoch fehlt in der Wissenschaft wie auch in Politik und Verwaltung häufig Einsicht oder die Bereitschaft, Güterverkehre und Logistik als Eigenschaft und notwendige Voraussetzung städtischen Daseins zu verstehen und integriert zu berücksichtigen (Schwedes, Rammler; 2012; Mobile Cities). Es sind gleichwohl Städte und Gemeinden selbst, denen aufgrund ihres Selbstverwaltungsrechts „unterhalb“ der staatlichen Ebene eine wichtige Akteursqualität in der Ausgestaltung der Urbanen Logistik zufällt. Laut Grundgesetz ist ihnen die Regelung der „örtlichen Angelegenheiten“ überlassen. Zugleich entscheiden aber Bundes- und Landesverwaltungen über den Rahmen der kommunalen Aufgaben und Kompetenzen sowie ihre finanzielle Mittelausstattung. Bei zentralen Planungs- und Investitionsentscheidungen sprechen die Bundesländer ebenfalls ein gewichtiges Wort mit. Bundesgesetze sind dabei in erheblichem Maße zu berücksichtigen (vgl. Jungfer 2005 und Bogumil/Holtkamp 2006).
Stadtbewohner denken bei Verkehrsströmen in ihrem Umfeld zuweilen an den (eigenen) Individual- oder öffentlichen Nahverkehr. Diese sind tendenziell positiv konnotiert. Lieferwagen, Lkws in Werks- und Versorgungsverkehren werden hingegen als eher störend empfunden. Der (Güterverkehrs-)Logistik wird demnach in der Stadt eine Rolle zugeschrieben, wie sie vor einigen Jahrzehnten in den Betrieben und der Betriebswirtschaft wahrgenommen wurde: Sie wird als selbstverständlich gegeben und als Teil eines größeren Systems akzeptiert und als etwas lästig empfunden – sofern überhaupt wahrgenommen.
Die Wahrnehmung änderte sich radikal in den vergangenen rund 40 Jahren. Gegenwärtig wird Logistik meistens als eigenständiger und zentraler Bestandteil der Wertschöpfungskette betrachtet. Auf dem Gebiet der städtischen Logistik stellen Firmen und Forscher bereits heute Lösungsansätze für eine Urbane Mobilität der Zukunft bereit. Beispiel: Das Fraunhofer IML zeigt mit seinem Projekt GeNaLog zur geräuscharmen Nachtlogistik, dass die Umsetzung von Nachtbelieferungen gelingen und so zur Entlastung des Tagverkehrs beitragen kann. Hürden für eine konsequente Nutzung stellen unter anderem fehlende Einfahrerlaubnisse, Regelungen zur Geräuschemission und meist nicht optimierte Ladungsträger dar. Darüber hinaus erproben eine Vielzahl von Start-ups wie auch bekannte Dienstleister aus der Paketzustellung neue Modelle der Warenbeförderung. Fahrzeuge der Sprinter-Klasse etwa werden durch Lastenfahrräder in verschiedenen Formen ersetzt. Diese Marktoffenheit ermöglicht es Start-ups, mit unterschiedlichen Konzepten und Geschäftsmodellen in den Wettbewerb zur Gestaltung zukünftiger Stadtlogistik einzutreten (Rytle, Kitcar u.a.). Bekannt sind auch völlig neu konzipierte Lieferwagen mit Elektroantrieb, die gegenüber einem Lastenrad mehr Volumen transportieren und vor Ort weniger Lärm und Abgas produzieren als herkömmlich motorisierte Wagen. Alle hier gewählten Beispiele zeigen, dass auf technischer Seite Fortschritte gemacht wurden. Viele Initiativen und technische Innovationen stoßen gleichwohl an Grenzen: Wenn sie zwar mit den Städten in deren gegenwärtigem Ist-Zustand arbeiten können und auf freien Flächen vor allem Wohn- und Büroquartiere entstehen, gleichzeitig aber keine „Räume städtischer Logistik“ vorgehalten werden. Logistiker liefern also bereits jetzt Innovationsangebote für eine Urbane Logistik, die aber in den Städten häufig noch nicht ausreichend mitgedacht wird.
Logistische Lösungen benötigen eine zeitgemäße Infrastruktur. Dazu gehören Rad(schnell)wege, flexible Einfuhr- und Belieferungsbestimmungen, Entzerrung der Verkehre und vor allem ein abgestimmtes Mobilitätskonzept, das unbedingt auch städtische Logistik als eigene Betrachtungsgröße integriert. Jede Bürgerin, jeder Bürger einer Stadt ist auf die ein oder andere Weise zugleich Mobilitätsteilnehmer. Die Logistikorganisation in der Stadt wird sich stets an der existierenden Infrastruktur orientieren. Gibt es reichlich auf Individualverkehre ausgelegte Verkehrswege, ist deren Mitbenutzung durch Lieferverkehre mit 3,5t-Fahrzeugen der Sprinter-Klasse die logische Folge. Als Alternative zum Status quo gilt eine Ausrichtung auf einen größeren Verkehrsmittelmix. Ein größerer Anteil von Kollektivverkehren würde eine neue Gestaltung von Urbanen Räumen ermöglichen und böte Logistikern einen Rahmen, um eine Stadt im Sinne der dort lebenden Bürger aufzuwerten. Dazu gehören auch Flächen für die städtische Logistik zur Gestaltung von Prozessen des Waren-Handling. Bisher ist die Logistik als Neuansiedlung bis auf wenige, sehr kostspielige Ausnahmen (Abrechnung für Logistikimmobilien derzeit als Mietpreis je qm in zentralen Lagen – Wasserwerke zahlen keinen Mietpreis) am Stadtrand oder gar im Umland beschränkt.
Ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Funktion von Logistik in der Stadt fehlt bei allen Akteuren (Bewohnern, Handel, Politik, Verwaltung etc.). In Initiativen für die Stärkung des städtischen Einzelhandels wird eine täglich mehrfach erfolgende Belieferung als Stand der Dinge erwartet, die Anlieferung aus einem entfernten Logistikzentrum bleibt jedoch verpönt. Die bigott anmutende Diskussion kreist somit um extrem hohes Straßenverkehrsaufkommen aufgrund umfänglicher Touren aus dem Umland und der gleichzeitigen Verneinung bzw. Nicht-Diskussion von innerstädtischen Lager- und Umschlagsflächen. Diese wären eine Grundlage für die Umsetzung verkehrsberuhigter Anlieferungen. Hier entstehende Arbeitsplätze lägen zudem dichter an Wohngebieten. Reduziertes Pendeln würde außerdem verkehrsentlastend wirken und vor allem Emissionen einsparen. Die Logistik kann ihre Lösungen nur innerhalb der gesetzten Rahmenbedingungen anbieten und ist somit auf die Zusammenarbeit mit anderen Wirtschaftsbereichen, Verwaltung und Politik angewiesen.
Offensichtlich ist also das Thema der Gestaltung Urbaner Logistik kein rein wirtschaftliches Thema – das sollte und darf es nicht sein! Die verschiedenen Akteure bzw. Stakeholder einer Stadt sind gleichwohl derzeit noch nicht ausreichend, geschweige denn vollumfänglich erfasst. Zu den Stakeholdern zählen etwa der Einzelhandel, Gastronomen (insb. mit Außenbereichen), Logistikdienstleister, Wirtschaftsförderer, Stadtplaner, Quartiersmanager, Bürger, Immobilienentwickler und andere. Eindeutige Rollenbeschreibungen fehlen sehr häufig, viele Akteure handeln in mehreren Rollen. Trennt die klassische Logistik zwischen Verlader, Transporteur und Empfänger ist die Urbane Logistik deutlich vielschichtiger. Mit Ansätzen wie dem Engagement von Kunden als Transporteuren werden Grenzen zwischen Stakeholdern zusätzlich verwischt. Die Wünsche von End- und Geschäftskunden werden zudem anspruchsvoller: Die Ware soll schnell verfügbar, ökologisch sauber transportiert sein und unter als fair wahrgenommenen Arbeitsbedingungen geliefert werden. Gleichzeitig verhalten sich Kunden höchst preissensibel bei Lieferkosten. Sie erhöhen so den Kostendruck auf Logistikdienstleister und beklagen den „Wilden Westen“ des innerstädtischen Verkehrs – Staus, Emissionen, zugeparkte Wege und Einfahrten, fehlende Belieferungskonzepte etc.
Das Thema Wohnen überwiegt zudem in den Agenden der meisten größeren und mittelgroßen Städte und ihrer Bürger. Politischen Willen bzw. die Initiierung eines Willensbildungsprozesses kann die Logistik erfolgreich alleine kaum erwirken, ohne in den Verdacht zu geraten, Partikularinteressen zu verfolgen. Aufgrund ihres bisher hohen Flächenverbrauchs wird sie klassisch mit Fahrzeugen und Hallen zudem schnell als lästig, teuer oder als für das Stadtbild unattraktiv abqualifiziert. Es geht gleichwohl um mehr Imagebildung! Deswegen benötigt es politische Initiative: Hier sei beispielhaft auf die knapp 30.000 Einwohner zählende Stadt Bad Hersfeld verwiesen, die eine neue Form der Innenstadtbelieferung definierte. Verwaltungsseitig gibt sie den Logistikern den Raum, innerhalb exakter Vorgaben die neuen Lieferkonzepte wirtschaftlich tragbar auszugestalten. Ein Hub außerhalb der Innenstadt dient als Anlieferungs- und Umschlagspunkt, von ihm erfolgt zentral und gebündelt die Auslieferung an die Privat- und Geschäftskunden in der Fußgängerzone. Die gebündelten Transporte sollen den Verkehr in der Fußgängerzone reduzieren und somit Konflikte zwischen Transporteuren, Anliegern, Ordnungsamt und Fußgängern drastisch reduzieren helfen. In die gleiche Richtung weist die Initiierung von Mini-Depots, an die sich Kunden der Geschäfte ihre Einkäufe liefern lassen können, um sie dort gebündelt abzuholen oder sie von dort nach Hause liefern zu lassen. Das Beispiel zeigt auf, dass es also nicht um schlichte Lieferzeitbeschränkungen geht, sondern um die Entwicklung und Möglichmachung von alternativen Konzepten.
Fazit: Aufgrund geänderter Ansprüche und Konsumgewohnheiten, Umweltschutzgedanken und weiterer Urbanisierung der Gesellschaft herrscht erneut Handlungsbedarf für einen Entwicklungsschub in der Organisation und Ausgestaltung städtischer Mobilität und Logistik. Die Herausforderungen waren auch im 19. Jahrhundert nicht klein. Eine konsequente Nutzung vorhandener technischer 5 EXCHAiNGE 2018 | 20. – 21. November | Frankfurt am Main
Lösungen und deren Weiterentwicklung sowie klarer politischer Gestaltungswille kann die Qualität städtischen Lebens auch im 21. Jahrhundert in besonderer Weise erhöhen.
Prof. Dr. Thomas Wimmer ist Referent in der EXCHAiNGE-Session „Start-ups, Corporates or Customers: Who is actually doing the Innovation?“ am 20.11.2018 (Hypermotion-Lab | Ausstellungsbereich Halle 5.1)
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Quelle: www.exchainge.de
Schlagwörter: EXCHAiNGE 2018